Als ich meinen Beitrag zu moralisch grauen Figuren in 2020 getippt habe, habe ich mir selbst eine Grube gegraben. Ich kann meinen Beitrag von damals – Hach, ich kann damals schreiben, weil es drei Jahre her ist, uff – noch gut nachvollziehen, auch wenn ich heute weiß, dass ich herrlich naiv war. Meine Gedanken haben sich geändert, ich habe mich entwickelt und bin zu meinem Leidwesen erwachsener geworden und dachte, ich lasse mal ein paar neue Gedanken zu diesem Thema hier. Mal schauen, ob das auch eine Grube wird, über die ich in ein paar Jahren stolpern werde.
Meine Gedanken zu moralisch-grauen Figuren, Klappe die Zweite
Zuallererst: I get it now.
Kurz nach diesem Blogpost in 2020 begann ich die Black Lives Matter-Proteste bewusst zu verfolgen, die absolut schrecklichen Aussagen von JKRoachling wurden immer präsenter und ich habe seitdem einen großen Absprung in aktivistische Themen gemacht und meinen eigenen Umgang mit Rassismus, Gender, Sprache, Feminismus etc. reflektiert und lerne ständig dazu. Diese Auseinandersetzung mit, gelinde gesagt, sozialen Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft, hat auch meine Augen für moralische Grauzonen geöffnet und warum sie gerade in der Popkultur so spannend sind. Außerdem ist mein Anspruch an die Komplexität von Figuren (egal ob Buch, Film oder Serie) in den letzten drei Jahren stark gewachsen, für mich kann es mittlerweile gar nicht mehr vielschichtig genug sein.
Kurzer Zusammenfassung meiner Kernaussagen aus dem alten Beitrag:
- Ich sympathisiere eher mit den idealistischen Figuren, weil ich selbst so bin, als mit den moralisch-grau-angelegten (Captain-America-Girl).
- Die Glaubwürdigkeit der moralisch-grauen Figur in der angelegten Welt – wie stark stellen sie sich gegen das System, welches System liegt vor (Kack-Welt, wo nur die Stärksten überleben oder eine Naja-Welt, mit dem Ansatz von sozialer Gerechtigkeit).
- Die Perspektive, die man auf die moralisch-graue Figur bekommt ist entscheidend.
Dann nehmen wir die Punkte doch mal auseinander.
Das Captain-America-Girl: Ich stehe immer noch dazu. Das ironische dabei ist aber, dass Cap in seiner Marvel-Entwicklung zum Schluss auch eher moralisch-grau ist – er hat vielleicht auch ein bisschen das Percy-Jackson-Syndrom; für seine Freunde tut er alles. Cap ist sehr idealistisch, aber wenn seine Ideale gegen die der Öffentlichkeit/Politik laufen, dann folgt er eher seinen eigenen, als denen, die ihm diktiert werden. Finde ich ziemlich sympathisch, ehrlich gesagt. Er hängt sein Fähnchen nicht nach dem Wind. Ich bin ganz ähnlich gestrickt, meine Ideale helfen mir die Welt zu navigieren und mir ist jetzt auch bewusst, dass idealistisch und moralisch-grau nicht direkte Gegensätze sind.
Die Glaubwürdigkeit: Mittlerweile gehe ich desillusionierter an die sozialen und politischen Strukturen einer Welt heran, nur weil beispielsweise Frieden herrscht, bedeutet das nicht, das alles gut läuft und alle Menschen gerecht behandelt werden. (Hätte das eigentlich schon aus meinen Lieblingsdystopien wissen sollen, aber besser spät als nie?) Wenn in einer scheinbar okay-en Welt eine moralisch-graue Figur auftaucht, finde ich das nun sehr spannend, denn es tut sich automatisch die Frage auf, was dieser Figur passiert ist, dass sie im Kontrast zum goody-two-shoes steht. Die Erforschung dieser Hintergründe liebe ich mittlerweile sehr und wenn es keine gut gemachte Hintergrundgeschichte gibt, fällt damit sowieso jede Figur.
Die Perspektive: Ich finde, es macht wahnsinnig viel aus mit welcher Erzählperspektive moralisch-graue Figuren – oder moralisch-graue Geschichte allgemein – betrachtet werden. Ich finde es einfacher über moralisch-graue Figuren zu lesen, wenn mir nicht von der Erzählperspektive eine Deutungsrichtung vorgegeben wird, wie das bei auktorialen oder Ich-Erzähler*innen oft der Fall ist. Ich bevorzuge neutrale oder personale Erzählperspektiven, wo zur erzählenden Figur ein gewisser Abstand gehalten wird. Dann kann ich relativ unbeeinflusst mir eine Meinung über die Figuren bilden und muss mehr eigenen Aufwand reinstecken, das führt meist dazu, dass ich emphatischer bin.
Charakterentwicklung freigeschaltet: Ich
In Zeiten der Klimakrise, einem alarmierend großen Rechtsruck und stetig schwindender Zukunftssicherung stehe ich heute den moralisch-grauen Figuren aus der fiktionalen Welt wesentlich verständlicher gegenüber. Ich verstehe den Frust, der mit ungerechten Systemen kommt, ich verstehe die soziale Ausbeutung und emotionalen Wunden, die oftmals dazu führen, dass eine Figur „Scheiß drauf“ sagt und dann die Welt anzündet. Oder einfach keinen Bock hat die Welt zu retten. Oder ein Teil des Systems zu sein und dann fröhlich Chaos stiftet. Ich verstehe es, ich finde es spannend und lese mittlerweile auch sehr viel lieber von solchen Figuren.
Fazit
Mein Standpunkt zu diesem Thema hat sich also um 360-Grad geändert, innerhalb von drei Jahren bin ich von einem Ende des Spektrums ins andere gewandert und ich mag es hier drüben tatsächlich gerne. Was meinem idealistischen-Ich aus 2020 fehlte, war die Desillusionierung, die mit der Pandemie und dem stärker wahrgenommenen aktivistischen Themen auf Social Media kamen. Heute lese ich diesen alten Beitrag und möchte meinem süßen, kleinen, naiven Pre-Pandemie-Me den Kopf tätscheln.
Habt ihr neue Gedanken zu dem Thema oder seid ihr nur froh, dass ich bekehrt worden bin? Lasst es mich wissen,
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