{DISCLAIMER: Ich distanziere mich massiv von JKRoachlings transfeindlichen Aussagen, die sie seit Juni 2020 auf Twitter getätigt hat; seitdem sehe ich davon ab ihre Werke zu unterstützen oder zu bewerben. Der Vollständigkeit halber lasse ich diesen Beitrag unberührt und auch alle vorherigen, weil Unsichtbar-machen mMn nicht hilft, sondern Aufklärung. An dieser Stelle eine Contentwarnung, ich habe mich in diesem Beitrag sehr stark auf Harry Potter berufen.}
Covid-19 macht mich scheinbar wirklich kreativ, denn hier kommt der nächste Beitrag, der keine Rezension darstellt. (Oder es liegt daran, dass ich bei meinen Eltern bin, nur einen Bruchteil meiner Bücher habe und bei Aufgaben im Haushalt wesentlich mehr Zeit zum Nachdenken.) Heute jedenfalls soll es um moralisch graue Figuren gehen, ein Trend, der in den letzten Jahren in Jugendbüchern sehr populär geworden ist und mit dem ich noch immer etwas kämpfe.
Die Grundaufstellung
Um es mit einem populären Vergleich zu beginnen: Ich bin vom Typ ein Captain-America-Mensch. Ich würde Cap immer Tony Stark vorziehen, den moralischen, nicht-fluchenden Schild von Amerika dem egoistischen Waffenhersteller mit dem Geld und Schutzanzug. Abgesehen davon, dass dieses Statement schon ’ne Menge über mich aussagt (^^‘), möchte ich das natürlich noch etwas vertiefen.
Anmerkung: Die gewählten Beispiele sind nicht perfekt und ihr dürft gerne anderer Meinung sein, mir ist nur zum verrecken kein besseres Beispiel eingefallen.
Jeder kennt den genialen Kaz Brekker, der sich gegen die Oberschicht von Ketterdam auflehnt und mit seinen Krähen Unruhe säht und kleine Gerechtigkeiten erwirkt. Ich muss gestehen, dass ich Kaz nicht so ganz mag und während des Lesens manchmal an Severus Snape erinnert wurde, einer moralisch grauen Figur, wie sie im – hehe – Buche steht. Die Gemeinsamkeit, die ich gesehen habe, war, dass beide einen langen Groll hegen und bewusst nähren. Natürlich muss mir niemand in diesem Vergleich zustimmen und es gibt auch viele Unterschiede, aber diese Charaktereigenschaft hat mich auf die Spur gebracht. Der Unterschied zwischen diesen Figuren und der Welt, die sie letztendlich formt und zur Verantwortung zieht, ist, dass es bei Snape und der Zaubererwelt eine klare Linie zwischen Gut und Böse gibt, die es so nicht in Ketterdam und für Kaz Brekker gibt.
In der magischen Welt gibt es teilweise eine sehr klare Aufteilung der Seiten, Todesser gegen Ordensmitglieder, Harry gegen Voldemort, das Ministerium gegen Hogwarts (an manchen Stellen). Dadurch, dass die Hauptfiguren in Harry Potter alle in diesen Kreisen verfahren, ist das Bild der Gegensätze sehr scharf, nur wenn man ganz genau aufpasst und sich von Harrys Erzählstimme und der damit vorherrschender Meinung differenzieren kann, ist es möglich die Grauzonen in Entscheidungen zu sehen. Dumbledore ist bei näherer Betrachtung eine schwierige Figur, ebenso Wurmschwanz und vielleicht noch Malfoy, wenn man so weit gehen möchte. (Ich rede übrigens strickt von den Buchfiguren, nicht den Interpretationen durch die Filme.)
Der Unterschied zur Six-of-Crows-Dilogie und Ketterdam liegt darin, dass in Ketterdam jeder nur an sich selbst zu denken scheint. Kaz und die Krähen sind weit ab vom Kampf um Ravka, haben alle eine eigene Agenda, jagen ihren eigenen, sehr unterschiedlichen Dämonen und Feinden hinterher. Die Linien zwischen Gut und Böse sind verschwommen, es gibt keinen großen übergreifenden Konflikt in den die Figuren ungewollt gezogen werden, sondern einen selbstinitiierten. (Ja, das System selber ist mies, i know.) Ich kann mit einem Kaz Brekker in einem ohnehin schon moralisch grauen System viel eher mitgehen und Sympathien entwickeln, als für einen Severus Snape, der so klar gegen die moralischen Grundsätze positioniert ist.
Schlussfolgerung?
Also zusammenfassend liegt mein Problem tatsächlich im Kontrast der Figuren zu dem System, in dem sie leben. Wenn es ein so umfassend stark kontrastierendes System wie bei Harry Potter, Tribute von Panem oder dem Marvel Cinematic Universe ist, dann ist es für mich schwer die Grauzonen zu akzeptieren. Das verständnisvolle in den Entscheidungen zu sehen, den Figuren ihren Egoismus zu gönnen, den Blick auf das größere Ganze wegzunehmen. Dann muss eine Figur wirklich gute Gründe haben, um sie glaubhaft gegen die moralischen Richtlinien der Welt zu stellen.
Durch meine prägenden Bücher bin ich sehr in dieses schwarz-weiß-Denken gepresst worden und auch heute – vor allem in dem Medien – ist ein sehr hartes Gut/Böse-Bild etabliert. Wir werden in unserer Gesellschaft so sehr auf schwarz-weiß-Denken getrimmt und Mehrdimensionalität ist schwer zu akzeptieren. Und gerade dann, wenn es eine so starke moralische Ausrichtung gibt, wie in einigen populären Franchises, finde ich Grauzonen einfach schwierig nachzuvollziehen.
Alles Liebe
PS
Wenn man allerdings eine anfangs „gute“ Figur begleitet und wiederholt sieht, wie das System sie missbraucht und ausnutzt und die Figur an einen Punkt kommt, wo sie einfach nicht mehr kann – *räusper* Fitz aus den Weitsehern – dann folge ich ihr sehr gerne auf dem Weg in den Abgrund.
Elena meint
Hallo Friederike,
ich empfinde reine schwarz-weiß Schemas und pure Helden offen gestanden als ziemlich langweilig. So mal diese absolute Dichotomie oftmals nur durch die gewählte Erzählweise entstehen. Wir sehen dann die Bösewichte nur durch die Brille der Protagonisten und gleichgesinnter Personen, erfahren deren Zuschreibungen. Wir wissen aber nicht, wie antagonistische Charaktere motiviert sind, ob es nicht versteckte Antreiber gibt oder Gründe, die ein anderes Licht auf die Angelegenheit werfen. Natürlich können Figuren einfach durch und durch böse sein, aber meistens liegt das an der einseitigen Porträtierung, dass wir diese Charaktere so gar nicht leiden können.
Ich finde es viel spannender, wenn teilweise Abscheu und Ekel entsteht, aber dennoch die Taten plausibel erscheinen und das Handeln nachvollziehbar ist, ja gute Motive sogar hat. Als wenn da einfach nur gesagt wird: „Er hasst alle x und setzt alles dran, diese auszurotten, weshalb unser Prota y nun den Tyrannen töten muss“. Es ist doch so viel interessanter, wenn zum Beispiel zwei Seiten sich im Krieg miteinander befinden und beide gute Rechtfertigungen für ihren Anspruch auf ein Gebiet haben .
Aber ich persönlich will auch in den Figuren nicht „Freunde finden“, sondern ich möchte, dass sie spannend geschrieben sind, interessante Konflikte durchleben, schwierige Entscheidungen treffen müssen; feststellen, dass ihnen wesentliche Informationen gefehlt haben … und nicht einfach zum moralisch überlegenen Sieg durchmaschieren.
Kurzum: In den von dir beschriebenen Beispielen wie Harry Potter oder Tribute von Panem bleiben die Bösewichte aus meiner Sicht oft Abziehbilder und da ist es natürlich schwierig, Sympathie aufzubringen. Die Geschichten hätten aus meiner Sicht durchaus noch dazu gewonnen, wenn mehr Grautöne drin gewesen wären. Wie sie jetzt sind, ist es natürlich der lesenden Person sehr leicht gemacht, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Protagonisten erkennen ja fast immer direkt, wer die Bösewichte sind oder haben zumindest Bedenken, die lesende Person selbst ist eigentlich gar nicht mehr gefordert eine Bewertung vorzunehmen. Das ist ein entspannendes Lesen, aber für mich irgendwie auch langweilig.
Viele Grüße
Elena
Sarah von Books on Fire meint
Hallöchen,
das ist mal ein interessanter Post. Ich habe Six of Crows bisher nicht gelesen. Harry Potter habe ich auch erst mit 16 das erste Mal gelesen und entnervt nach Band 5 aufgegeben. Vielleicht fehlt mir deswegen diese Prägung.
Ich persönlich LIEBE böse und moralisch graue Figuren. In meinem Jahreshighlight „The Shadows Between Us“ von Tricia Levenseller hat die Protagonisten ihren ersten Geliebten umgebracht und plant jetzt genau das selbe mit dem König zu tun, um sich selbst die Macht unter den Nagel zu reißen. Aber auch der König ist kein guter Mensch.
Ich liebe es einfach, wenn Charaktere nicht selbstlos sondern egoistisch sind. Vielleicht hast du mit der Prägung aber recht. Ich habe früh lernen müssen, dass wenn man sich auf andere verlässt, man verlassen ist. Möglicherweise kann ich deswegen eher mit diesen Charakteren etwas anfangen, als mit den selbstlosen Helden. Ich würde auch immer Tony Stark Steve Rogers vorziehen und beiden sogar noch Natascha und Scarlet Witch.
Liebe Grüße
Sarah von Books on Fire
Friederike meint
Hallo Sarah,
tut mir Leid, dass du so lange auf eine Antwort warten musstest, ich hatte das Litnetzwerk total unterschätzt und die Uni macht bei sowas ja auch einfach weiter.
Der Beitrag wurde tatsächlich von dem Buch „Scherbenkrone“ von Tessa May angestoßen, da die Hauptfigur Calista auch eher moralisch grau ist – übrigens ebenfalls ihren Mann umbringt – und sich damit ihren Thron sichern will, um ihr Volk zu schützen. Dass sie dafür aber gegen sämtliche Regeln verstößt, die dieses Volk schützen saß mir irgendwie quer im Hals.
Egoistische Figuren finde ich auch spannend, gerade weil jeder irgendwo egoistisch ist und es somit nur realistisch. Ich werde wohl nie von den herzensguten Figuren wegkommen, habe aber zum Beispiel letztens erst „Das neunte Haus“ von Leigh Bardugo gelesen, wo die Hauptfigur Alex das Paradebeispiel von moralisch grau ist und sie mochte ich wirklich sehr.
Und Natasha und Wanda sind beide Spitze, ich habe den Vergleich mit Cap und Tony nur gebracht, weil er so prominent ist, auch unter nicht-Fans.(Wenns nach Lieblingsfiguren geht, dann rangieren T’challa, Hawkeye, Sam Wilson, Nebula und Shuri auch noch ganz weit oben.
Alles Liebe
Friederike.
Katharina meint
Wir hatten da ja schonmal drüber diskutiert – und sind auf keinen grünen Zweig gekommen – und ich sehe das immer noch etwas anders als du 😀
Ich mag Figuren dafür, dass sie nicht gut sind. Nicht im Sinne von „würde ich im echten Leben gerne mit abhängen“, aber ich mag, wenn man nicht nur gute Charaktere hat, die meist dann nämlich eher kleine Fehler haben, sondern auch über Figuren liest, die an ihre Grenzen getrieben werden. Natürlich kommt es dabei immer auf die Erzähler an. Würde man aus Snapes Sicht lesen würde man Harry wahrscheinlich hassen. Würde man aus Van Ecks Sicht lesen, würde man vermutlich auch nicht mit Kaz und Co. mitfiebern. Der Autor gibt einem auch bei „moralisch grauen“ Figuren natürlich immer ein richtig/falsch mit vor, irgendwas, damit deren Taten gerechtfertigt werden. Ob einem diese Rechtfertigung reicht ist halt die andere Sache. Aber ich finde trotzdem, dass Figuren, die ihre Abgründe haben, um einiges interessanter sind als Figuren, die im typischen Sinne gut sind. Und ich bin by the way auch Captain America Fan und mag Tony Stark nicht so 😀
Friederike meint
Hi-hi,
Ich merke gerade, dass ich entweder moralisch graue Figuren gar nicht als solche erkenne oder zu wenig Bücher mit ihnen gelesen habe, denn an sich muss eine Figur für mich nicht immer gut für mich sein, damit ich sie mag. Für mich sind eben moralische Grenzen wichtig, wo immer diese liegen. Aber an sich bewerte ich Figuren schon immer danach, wie sehr ich sie mag und das schließt „mit ihnen befreundet sein wollen“ mit ein, das ist eben das vorherrschende Gefühl für mich beim lesen. Ich will mich in der Welt ja wohl fühlen und da brauche ich einen Sympathieträger. Abgründe hin oder her. Ich habe nur bemerkt, dass bei mir die äußeren Umstände – ob nun vom Autor*in beeinflusst oder nicht – eine enorme Rolle spielen. Und wie gewillt ich bin das Buch und die Figuren kritisch zu betrachten. ^^‘
Alles Liebe
Friederike.
Kat @ Kat from Minas Morgul meint
Huhu 🙂
Interessanter Post. Tatsächlich habe ich noch nie wirklich aus dieser Sicht darüber nachgedacht, kann aber gut nachvollziehen, was du meinst und auch warum. Ich bin da etwas anderer Meinung, moralisch graue Charaktere gehören meist zu meinen liebsten Charakteren. Ich habe einfach oft das Gefühl, dass sie besonders gut geschrieben sind, der innere Konflikt zwischen Gut und Böse und die Linien, die da verschwimmen. Es ist nicht so, dass ich die Charaktere unbedingt mag im Sinne von „wenn der real wäre, wäre ich gern mit ihm befreundet“, sondern eher im Sinne von „ich mag, wie er geschrieben ist“. Ich weiß nicht, ob es dir da auch so geht oder ob du da überhaupt keinen Unterschied machst, aber das würde mich auf jeden Fall interessieren 🙂
Liebste Grüße
Kat
Friederike meint
Hallo!
Hat leider etwas gedauert mit dem Antworten, aktuell fehlt mir für den Blog & Instagram die Motivation und Energie – Uni ist so allumfassend gerade. ^^‘
Also, ich bin tatsächlich jemand der Figuren meistens danach bewertet, wie sympathisch sie mir sind, also auch, ob ich mit ihnen im „echten“ Leben was anfangen könnte. Leider denke ich viel zu selten darüber nach, wie gut eine Figur geschrieben ist, wobei moralisch grau Figuren wirklich spannender sind. Also den Aufwand und das Handwerk weiß ich schon zu schätzen, aber ich kann auch ziemlich hart urteilen. ^^‘ Allerdings kam mir bisher der innere Konflikt bei moralisch grau gelesenen Figuren zu kurz, ich habe selten das Gefühl, dass es da wirklich einen Konflikt gibt. Oder ich lese einfach nicht genug Bücher mit solchen Figuren.
Alles Liebe
Friederike.