2018 hat mich Farbenblind als autobiographisches Buch sehr beeindruckt und wie es aussieht, wird es dieses Jahr Nachtlichter sein. Nachtlichter lag schon seit einer Weile auf meinem SuB und bisher hatte ich zu viel Angst vor der Thematik und was sie mit mir machen könnte, um es anzufangen. Warum? Weil es um eine Alkoholikerin und ihren Kampf mit der Abstinenz geht und das ein Thema ist, das in der Gesellschaft immer noch totgeschwiegen wird, allenfalls zu peinlichen Gesprächen führt und gleichzeitig so verbreitet ist, dass jeder irgendwo eine emotionale Verflechtung dazu hat. Ich hatte Angst durch das Buch Menschen anders zu betrachten, sie vielleicht zu verurteilen, wenn mir nicht gefallen würde, was ich lese. Meine Angst blieb zum Glück unbegründet. Dieses Buch hat mir die Augen geöffnet, wofür ich wahnsinnig dankbar bin.
Darum gehts
Die Journalistin Amy Liptrot erzählt in diesem Buch von ihrer Zeit als Alkoholikerin, ihrem Widerstreben trocken zu werden und dem ständigen Kampf gegen die Sucht. Auf den Orkney-Inseln aufgewachsen, kamen sie ihr immer mehr wie ein Gefängnis vor, als der Ort, der ihr helfen könnte und als sie dorthin zurück kehrt fühlt sich ihr Leben verwirkt an.
Meine Meinung
Ich habe für dieses Buch viel Zeit gebraucht; über einen Monat habe ich immer wieder ein paar Kapitel gelesen, mir Ziele gesetzt, damit ich überhaupt Fortschritte machte, weil es so hart war. Amy Liptrot ist Journalistin und für dieses Thema kann sie ein bisschen zu gut schreiben, denn es war deprimierend. Ich konnte nicht mehr als ein paar Seiten zu Beginn lesen, ohne mich verzweifelt in eine Ecke verkriechen zu wollen. Die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, die Depression und Sturheit, die aus den ersten Seiten flossen, überwältigten mich vollkommen. Genau wie für die Autorin, ist dieses Buch auch für mich als Leserin eine wahnsinnig emotionale Reise gewesen. Ich konnte erst wieder weiterlesen, wenn ich mich emotional von dem Buch distanziert hatte.
Dieses Buch ist eine Autobiographie, das heißt, alles hier geschilderte hat die Autorin selbst erlebt, was es authentisch, hart und schwer zu kritisieren macht. Ich habe nun großen Respekt vor dieser Frau, die ihren harten Kampf in die Welt getragen hat und für mich so viele Wahrheiten in Worte fasste, dass ich am liebsten das ganze Buch zitieren würde. Markierte Stellen habe ich dafür zumindest genug.
In 28 Kapiteln wird mehr oder weniger chronologisch die Zeit in Worte gefasst, die Amy Liptrot mit der Suchtbekämpfung verbringt. Es gibt einen überspannenden chronologischen Rahmen, allerdings wird in vielen Kapiteln noch einmal auf vergangene Ereignisse zurückgeschaut, die man so in der Chronologie noch nicht erfahren hatte. Das machte es für mich manchmal ein bisschen verwirrend, da in manchen Absätzen erst nach einiger Zeit klar wurde, dass dies bereits einige Monate zurück liegt und nicht gerade passiert. Das war besonders schlimm, wenn man denkt, dass die Erzählerin trocken ist und im nächsten Satz von einem Barbesuch spricht und man denkt, dass sie rückfällig geworden ist. Ich habe manchmal gedacht, dass es ein ziemliches Puzzle wäre, alle beschriebenen Ereignisse an einem Zeitstrahl einzuordnen.
„Trocken zu werden“ ist kein Moment, nach dem alles besser wird, sondern ein andauernder, langsamer Prozess des Wiederaufbaus, mit regelmäßigen Rückschritten, Schwankungen und Versuchungen.
S. 332
Das Wichtigste, das ich aus diesem Buch mitgenommen habe ist, das man eine Sucht nicht heilen kann. Man kann sie nur wieder und wieder bekämpfen. Suchartiges Verhalten gibt es überall, scheint mir, denn Liptrot entwickelt einen Wissensdurst, sobald sie nicht mehr Trinken kann, der ihre Alkoholsucht ersetzte. Der Wunsch in einer Sache völlig aufzugehen, bleibt. Sie hat lediglich ihre Ausrichtung geändert. Wann immer sie an ein Glas Wein oder Whiskey dachte, kompensierte sie es mit einem tiefen Abtauchen in die ökologische Welt der Orkney-Inseln. Ich habe in diesem Buch so viel über Vögel, Schafe, Meeresbewohner, Seefahrt, Errosion & Korrosion und Küstenleben gelernt, dass ich damit mein Wissen aus Geografie und Biologie aus der Schule in den Schatten stellen kann.
Da ist eine Leere in mir. Ich habe den Alkohol verloren und suche verzweifelt nach etwas, mit dem ich mich wieder füllen kann.
S. 236
Die erste Häfte des Buches beschäftigt sich intensiv mit der Suchtbewältigung, wie Liptrot dazu kam, wie sie sich in einem Porgramm zum trocken-werden angestellt hat, wann und wie sie Rückfälle hatte. Und wie trostlos ihr Leben als Alkoholikerin war. Sie beschreibt ihr Alkoholiker-Dasein aus Kreislauf aus Schämen, Trinken und Schämen. Unter Alkohol war sie eine andere Frau, ohne fühlte sie sich nicht wie ein menschenwürdiges Wesen.
Jeder Alkoholexzess ist ein manisch-depressiver Kreislauf im Kleinformat.
S. 267
Die zweite Hälfte des Buches ließ sich dann ein bisschen besser lesen, weil der Kreislauf gebrochen wurde und Liptrot aktiv daran arbeitete, sich wieder ein Leben aufzubauen. Ich habe gerne mehr über Orkney gelernt, die Landschaftsbeschreibungen war großartig detailliert und befreiend, ich habe mich gefühlt, als wenn ich ebenfalls entgiftet wurde. Von Tauchtribs in den Buchten von Orkney, über Schock-Baden in allen Gewässern in und um Orkneys, zu nächtlichen Vogelsuchen und einbetonierten Weihnachtsbäumen ist die zweite Hälfte gefüllt mit Abenteuern.
Das Leben geht weiter, und als ich nach Orkney zurückkehre, weiß ich, dass ich mehr tun muss, als einfach nur nicht zu trinken.
S. 114
Nebenbei erfährt man auch viel über ihre Familie, über den manischen Vater, die geschiedenen Eltern, den Bruder, zu dem sie keinen Kontakt mehr hat. Die Freunde, die sie durch die Sucht verloren hatte. Es ist privat und schmerzhaft und die Einsamkeit lässt auch mit dem Trocken-sein nicht nach. Mit Anfang Dreißig findet Liptrot aber plötzlich besser ihren Platz in der Inselgemeinde von Orkney, verbringt einen einsamen Winter auf einer kleineren Insel, lernt die wenigen Einwohner besser kennen. So, wie dieses Buch über Sucht erzählt, so erzählt Liptrot auch über Gemeinschaft, soziale Kompetenzen und das Suchen nach dem eigenen Platz in der Welt.
Ich kann gar nicht alles, was mich in diesem Buch bewegt hat in Worte fassen, weil es einfach zu viel wäre, aber von den Zitaten, den Lektionen und Lebensweisheiten werde ich noch eine lange Zeit zehren und kann das Buch nur einem jedem gewillten Leser ans Herz legen.
Ein Grund, warum Alkohol süchtig macht, ist die Tatsache, dass er nicht ganz funktioniert. Es ist schwer, von etwas genug zu bekommen, das nur beinahe funktioniert.
S. 339
Es wird so schonungslos berichtet und in Worte gefasst, umschrieben und hinausgeschrien, dass dieses Buch eigentlich kaum Hoffnung geben kann. Aber ich denke, eine falsche Illusion über die Sucht zuzulassen, ist noch viel schlimmer.
Nachtlichter
übersetzt von: Bettina Münch | Verlag: btb | Seiten: 347 |Format: Gebunden mit Schutzumschlag, eBook | Preis: 18,00€ (GB); 13,99€ (ePub) | Erscheinungstermin: 09. Oktober 2017
*Vielen Dank an den Verlag und das Bloggerportal von Randomhouse für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares.
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[…] mag Rezensionen, die schwierig sind, wo ich richtig arbeiten muss. Deswegen wahrscheinlich die zu Nachtlichter, wo ich so viel in Worte packen […]