Ich bin bei diesem Buch sehr gespalten. Gelesen habe ich es, weil ich eine Geschichte über Krankheit lesen wollte. Ich hatte gerade von Claire Wineland gehört, einer jungen Frau, die Cystic Fibrosis hatte und einen Tag vor meinem Geburtstag gestorben ist, als sie eine neue Lunge bekommen sollte. Claire hat Youtube-Videos gemacht und hat beim Drehen des Films Five Feet Apart geholfen. Ich mochte ihre Ehrlichkeit, ihre Weltsicht. Und habe mir von diesem Buch ähnliches versprochen. Nun habe ich das bekommen, aber eben nicht nur, und da die Autorin selber Krebs hatte, also als Betroffene eine Geschichte über ein Mädchen mit Krebs geschrieben hat, fühle ich mich schlecht, wenn ich das Buch kritisiere.
Darum gehts
Lenia hat Krebs. Aber Lenia will sich davon nicht ihr Leben verbauen lassen. In einer besseren Phase lässt sie sich Gitarrenunterricht geben, vom mürrischen Jonathan. Sie liebt die Musik und findet in ihr Kraft, Mut und Zuflucht, wenn ihr Körper sich gegen sie stellt. Jonathan hat seinen Traum verloren. Seit zwei Jahren geht er einem semi-befriedigenden Job nach und rechnet sich Nichts aus, als er bei Lenia ins Zimmer kommt. Aber die junge Frau ist offen und ehrlich und voller Lebensdrang. Kann ein totkranker Mensch einem lebensmüden Menschen Hoffnung schenken?
Meine Meinung
Bei diesem Buch musste ich mich quälen. Ich sage es frei heraus, nach den ersten drei Kapiteln wurde es anstrengend. Besser – Lenia wurde anstrengend. Lenia ist eine sehr interessante Person, die ich für den Einblick, den sie mir in das Leben mit Krebs geben konnte sehr schätze, gleichzeitig kann ich sie als Figur nicht ausstehen. Lenia ist Anfang zwanzig, vor bereits drei Jahren hat sie ihre Krebsdiagnose bekommen und lebt nun abwechselnd im Krankenhaus und bei ihren Eltern. Durch das Ringen mit den Tod hat sie eine gewisse Lebenseinstellung und auch Lebensweisheit gewonnen und spricht den anderen Patienten auf der Station Mut zu. Allgemein war die Gemeinschaft im Krankenhaus fantastisch, alle Patienten haben sich gegenseitig gestützt und geholfen, haben sich wieder aufgebaut und zusammen gefreut, wenn jemand nach Hause gehen konnte. Dass ein solcher Gemeinschaftssinn herrschen kann, fand ich toll und beeindruckend.
Das Buch erzählt vom Alltag einer Krebspatientin, von den Ängsten und Wünschen, den Hürden und guten Momenten. Es erzählt die Geschichte eines Menschen, der genau so viel Mensch ist, wie gesunde Menschen auch. Aber es erzählt auch über Krebs. Und über die vielen Leben, die von der Diagnose eines Menschen beeinflusst werden.
Lenia hat ein tolles Support-System: Ihre beste Freundin Isabell ist für sie extra nach London gezogen, ihre Eltern unterstützen sie wo sie nur können, ohne zu klammern oder überfürsorglich zu werden. Man fühlt sich in Lenias Gemeinschaft super wohl. Aber mit Lenia selber hatte ich ein massives Problem: Sie mischt sich ein. Viel. Und überall. Lenia glaubt, ganz fest zu wissen, wie man sein Leben leben soll. Und das mag für sie auch stimmen, sie weiß worauf sie Wert legt, weil sie mit einem zeitigeren Tod konfrontiert wurde. Aber nur, weil Lenia das so sieht, heißt das ja nicht automatisch, das andere das so sehen oder sehen müssen. Im Laufe des Buches zwingt sie ihre Lebensweise der anderen Hauptfigur Jonathan auf.
Jonathan hat seinen Traum Musiklehrer zu werden verloren. Seit zwei Jahren gibt er nebenbei Musikunterricht, aber nicht in dem Maß, wie er es sich erträumt hat. Er hat sich von der Welt zurückgezogen, ist mutlos, schroff und kalt. Nur bei der Musik kann er aufatmen.
„Sie sind ein völlig anderer Mensch, wenn Sie singen und spielen.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja“, begann Lenia. „Sie tauchen ab, Sie entspannen sich. Sie werden nahbar.“
„Nahbar?“, wiederholte er und weitete verächtlich seine Nasenflügel.
S. 41 (iBooks)
Lenia zu unterrichten erscheint ihm zuerst sinnlos, weil sie ja eh bald sterben soll, was bringt es da ihre Zeit mit wundgespielten Fingern und ständigem Lernen zu verschwenden? Aber Lenia zeigt Jonathan schon bald, worauf es wirklich ankommt und Stück für Stück schubst sie ihn ins Leben zurück.
„Es stimmt, dass viele sagen, dass nicht alle Träume wahr werden, aber wir können dafür sorgen, dass wir ihnen folgen und ihnen eine Chance geben.“
S. 36
Ab dann musste ich beim Lesen immer öfter inne halten. Lenia hat jedem ihre Lebenseinstellung aufgedrückt. Ihre Kommentare zum Leben anderer waren spitz und fies, wurden nur mit einem frechen Grinsen kaschiert. Sie konnte nicht akzeptieren, das andere Menschen ihr Leben eben anders leben wollen. Und es eventuell nicht voll ausleben. Ich verstehe, dass mit der Diagnose des bald möglichen Todes sich jeder Mensch ungerecht behandelt fühlt und Menschen, die ihr Leben wegschmeißen, am liebsten Schütteln möchte. Aber das gibt einem noch lange nicht das Recht, es auch zu tun. Aber das macht Lenia. Sie mischt sich hochgradig in Jonathans Leben ein.
„Ich mag es nicht, zu etwas gedrängt zu werden, dass ich nicht möchte.“
„Aber Sie haben diesen Ausflug im Nachhinein nicht bereut, oder?“
S. 176
Das ist Lenias Argumentation. Es ist ihr schnuppe, ob sie die Wünsche Jonathans mit Füßen tritt, seine eigenständigen Entscheidungen missachtet. Sie hat keinen Respekt vor seinen Entscheidungen. Lieber arrangiert sie ein Vorstellungsgespräch für ihn, telefoniert hinter seinem Rücken mit seinen Eltern, die ihn mehr oder weniger raus geworfen haben, solange es nicht schlimm endet.
Ich habe bestimmt 25 Zitate, wo Lenia Jonathan zu etwas drängt, seine Entscheidungen übergeht oder ihn wahnsinnig schlecht behandelt. Ich wiederhole: Ich verstehe den emotionalen Aufruhr, der in ihr herrscht und der im Laufe des Buches auch nicht weniger wird. Aber das gibt ihr trotzdem nicht das Recht, Jonathans Leben zu diktieren. Denn das tut sie. Verschwendet seinen Sprit, als sie ihm mit Absicht nicht den richtigen Weg fahren lässt, zwingt ihn auf ein Riesenrad zu steigen, obwohl er Höhenangst hat.
Sie musste ihm wehtun, damit er endlich begriff, was er längst hätte begreifen müssen. Sie hatte ihm die Wahrheit schonungslos, mit geballter Faust in sein Gesicht schlagen müssen.
S. 348
Lenia MUSS gar nichts. Sie hat keinerlei Berechtigung, Jonathan sein Leben zu diktieren, da sie „lediglich“ eine merkwürdige Freundschaft verbindet. Jonathan ist Lenias Care-Projekt, das sie beenden muss, ehe es schlimmer wird. Für einige mag ich das Problem aufspielen, aber für mich wurzelt das in einem viel tieferen Problem: Der Missachtung der Entscheidungen anderer. Es heißt nicht umsonst Leben und Leben lassen. Wer weiß, vielleicht hätte Jonathan allein durch den Unterricht auf der Onkologie-Station sein Leben bald selber umgekrempelt. Das geht ja auch nicht alles spurlos an ihm vorbei, wie seine kurzen Erzählabschnitte zeigen.
Übrigens wurde in den ersten Kapiteln abwechselnd aus Jonathans und aus Lenias Sicht erzählt, zum Ende hin ist Jonathans Sicht aber verschwunden. Das kam mir merkwürdig vor, weil seine Entwicklung keinesfalls beendet war, als seine Erzählabschnitte verschwanden. Ich bin mir nicht sicher, was damit bezweckt werden sollte oder ob ich Jonathan eine größere Rolle in dem Buch zugerechnet habe, als gedacht. Aber komisch war es schon, dass seine Stimme plötzlich wegfiel.
Aber es gibt an diesem Buch auch einige gute Dinge. Wie gesagt, hat es mir einen tieferen Einblick in die Krankheiten gegeben, hat den Gefühlstumult um einiges greifbarer gemacht. Neben wunderschönen Zitaten, bekam man auch die hässlichen Seiten von Krebs mit, von Chemotherapie. Die einzigartige und schonungslos ehrliche Einsicht, die die Autorin bieten konnte war toll. Es war ergreifend und ungerecht und hat weh getan.
Jonathan und Lenia arbeiten während des Buches an eigenen Songs und ich habe selten so schöne Liedtexte gelesen. Normalerweise finde ich Figuren die Singen oder Texten sehr peinlich, aber Lenia und Jonathan haben auf so ehrliche, kritische und rohe Art über Musik geredet, dass ich einfach nur mitgerissen wurde. Die kompletten Liedtexte stehen übrigens auch hinten im Buch auf Deutsch und Englisch drin.
Lieder von Morgen hat eine starke Botschaft bezüglich der Diagnose Krebs und dem Leben mit dieser Diagnose. Allerdings überschreitet Protagonistin Lenia beim Ausleben ihrer Wahrheit einige Grenzen, was ich absolut nicht verstehen kann. Für viele ähnliche Grenzüberschreitungen kritisieren wir oft in Büchern, wie im realen Leben. Und auch, wenn jemand eine schlimme Krankheit hat, enthebt ihn das nicht automatisch den normalen Regeln menschlichen Zusammenlebens.
Ist das ein zu hartes Urteil? Ich habe mit mir gerungen, als ich diese Stellen gelesen habe, eben weil nicht alles was Lenia tut falsch ist, sie aber Jonathan nicht die Chance gegeben hat, diese Entscheidungen selbst zu treffen. Sie hat es ihm abgenommen und das stört mich.
Verlag: Drachenmond ~ Seiten: 320 ~ Format: Taschenbuch, eBook ~ Preis: 12,90 (TB); 3,99 (ePub) ~ Erscheinungstermin: 3. Dezember 2018 ~ Neugierig?
*Vielen Dank an Lovelybooks und die Autorin für die Bereitstellung eines digitalen Rezensionsexemplares.
Yvonne meint
Liebe Friederike,
ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber alleine deine Rezension hat mich schon wahnsinnig gemacht, wegen Lenas Verhalten. Ich bin auch jemand, ich mag das echt überhaupt nicht, wenn Charaktere so übergriffig sind. Sowohl im realen Leben, als auch in Büchern. Du hast absolut recht, dass man die Leben und Vorlieben und Entscheidungen von anderen Menschen akzeptieren sollte. Ich konnte absolut nachvollziehen, was dich an dem Buch so gestört hat. Vielen lieben Dank für die tolle Rezi!
Viele Grüße
Yvonne 🙂
Friederike meint
Liebe Yvonne,
Danke für dein positives Feedback, ich stand schon so oft kurz davor meine Rezension nochmal zu überarbeiten, weil ich sie selber richtig scharf finde. (Also, in dem Sinne, dass ich ziemlich ins Detail gehe.) Dann kann ich aber auch wiederum nicht erklären, was mich so an dem Buch gestört hat und da war ich dann etwas planlos.
Dass ich meine Gefühle verständlich rübergebracht habe, erleichtert mich total und das du meine Meinung teilst erst recht.
Alles Liebe
Friederike.