Bei mir trommelt der Regen gegen die Fensterscheibe, es ist ein wenig düster in meinem Zimmer und vor wenigen Minuten habe ich Wicker King beendet.
Wenn ich an das gerade gelesene denke, zittere ich noch ein bisschen und bin auch geschockt. Ich schwärme nicht für dieses Buch, das will ich gleich von Anfang an klar stellen. Tatsächlich ist es bei Lektüre, die ich wichtig finde – wahnsinnig wichtig – selten so, dass ich sie abgöttisch liebe. Aber wie schon gesagt, sie IST WICHTIG und deswegen sollte sie jeder lesen. Egal ob als eBook, gekauft, ausgeliehen oder nur im Buchladen häppchenweise.
Darum gehts
August und Jack kennen sich seit sie denken können. Obwohl sie in der Schule nicht in denselben Kreisen verkehren, bedeuten sie sich mehr, als vielen klar ist. Aber Jack beginnt merkwürdig zu werden, Dinge zu sehen, die nicht da sind und August kann sich sein Verhalten nicht erklären. Also folgt er Jack in seine Fantasien, in der Hoffnung ihm helfen zu können.
Meine Meinung
Wie schon erwähnt, bete ich dieses Buch nicht an. Obwohl es eine eindrucksvolle, wortgewaltige und wichtige Geschichte erzählt ist es kein fröhliches Buch, kein Buch, dass mir Komfort gibt und bei dem ich mich während des Lesens wohl gefühlt habe. Vielmehr ist hier das Gegenteil der Fall. Die kurzen Kapitel, die aus Augusts Leben erzählen, fühlen sich in manchen Momenten wie Tagebucheinträge an, so beklemmend, ehrlich und real sind sie geschrieben. Und so verlockend das Stöbern in Tagebüchern für manche – auch mich – sein mag, dieses Buch hätte ich in manchen Minuten lieber unaufgeschlagen gelassen. Unterlegt mit Bildern, wo den Personen die Augen übermalt wurden, kleinen Zeichen am Seitenrand und immer dunkler werdenden Flecken auf dem Papier, gestaltet sich nicht nur das Lesen immer schwieriger, es wird auch der emotionale Zustand Augusts immer schlimmer. Denn auch wenn August über seinen Freund Jack erzählt und darüber, wie er ihm zu helfen versucht und sein ganzes Leben auf ihn ausrichtet, geht es in dieser Geschichte um August und wie er sich selbst zugrunde richtet, um jemand anderem zu helfen.
Alles beginnt damit, dass Jack – Augusts bester und längster Freund – beginnt Dinge zu sehen, die nicht da sind. Zuerst wirkt es noch spannend, witzig, faszinierend. Aber bald entwickelt sich für Jack eine ganze Welt, die die Welt von August Stück für Stück verdrängt und Jack kann sich nicht mehr zurecht finden. Er sieht nicht mehr, was vorgeht. Einzig August ist seine Verbindung zwischen den beiden Welten und August tut alles, um Jack zu helfen. So lasch diese Phrase auch klingt, sie ist wörtlich zu nehmen. Denn August tut weit mehr, als man sich vorstellen kann. Während Jack bereits in seiner Fantasiewelt festhängt und eine Quest verfolgt, kämpft August für jedes Stückchen Land darin und befindet sich bald auf einem Weg, der nur ein sehr langes und schmerzhaftes Zurück beinhaltet.
Er war sich sicher, dass es eine missbräuchliche Art von Beziehung war, in der er steckte. ∼ S. 91
Obwohl Wicker King auf den ersten Blick wie die Geschichte über Jacks Krankheit wirkt, ohne dabei wie ein typisches Krankheitsbuch zu klingen, geht es eigentlich um August, der sich kaputt macht. Allein an all das zu denken, was August für Jack tut lässt mir die Haare ausfallen, so krank und falsch ist es. Zusammen mit Stress, Sorge und wachsendem Zeitdruck entwickelt August eine Abhängigkeit zu Jack, die nicht mehr mit Freundschaft zu vergleichen ist. Sie nimmt sein ganzes Leben ein und nur einige wenige Momente kann er sich stehlen, um für sich zu sein. Aber auch diese Momente bleiben dem Wicker King, zu dem Jack mit jedem Tag mehr wird, nicht verborgen und August sieht sich bald in der Rolle seines allzeitbereiten Vasallen.
„Du solltest deinen König nicht verlassen. Das ist … unehrenhaft. Unritterlich. Feige. Du kannst mich nicht loswerden“, zischte der Wicker King. ~ S. 186
Getarnt als Spiel aus ihrer Kindheit beginnen Jack und August sich immer mehr in Rollen zu pressen, die ihrer nun toxischen Freundschaft einen Sinn und Regeln geben und wie die Autorin das dargestellt hat, ist perfekt. Hier werden all die hässlichen Seiten einer solchen Beziehung so dargestellt wie sie sind, nichts wird romantisiert und als Leser windet man sich, so falsch ist es, was auf diesen Seiten passiert.
„Ich werde immer an deinen Fernsen kleben, für dich kämpfen. Mir wehtun, weil du es von mir verlangst.“ ~ S. 302
Bevor allerdings die Dinge richtig ernst werden, gab es im Buch meiner Meinung nach ein paar Längen. Die farbige Darstellung der Seiten zeigt ganz gut, ab wann es gravierend schlimm, aber auch spannend wird und die letzten „reinen“ Seiten waren für mich schwer zu lesen. Die Autorin streut ein paar weitere Themen in das Buch ein, die sich nicht in den Vordergrund drängen und für ungeschulte Leser – wie mich – zuerst gar nicht erkenntbar waren. Dennoch gehören sie zu dem dichten Gewebe dieses Buches, denn wenn ich eines an diesem Buch wirklich liebe, dann wie nathlos die einzelnen Themen und Handlungsstränge zusammen laufen. Ich habe schon lange kein so dichtes, komplexes Buch mehr gelesen und zu erkennen, wie gut Kalya Ancrum ihr Handwerk beherrscht, war eine Freude.
Weil August als Erzähler die Wahrnehmung des Lesers weitesgehend bestimmt, habe ich vielem geglaubt, was er gesagt hat. Und auch, wenn es sich im Nachhinein als falsch herausgestellt hat, weil August diesen Teil von sich zuerst nicht verstanden und akzeptieren konnte, fand ich es gut, dass manche Handlungen nicht mit Floskeln wie „Aber du liebst ihn doch“ erklärt wurden. Die Gefühle die zwischen Jack und August herrschen, sind sehr viel komplizierter als Liebe es erklären könnte, vor allem, da die beiden sich bis kurz vor Schluss auf unterschiedlichen emotionalen Ebenen befinden.
Aber ja, dieses Buch spricht auch auf sehr subtile Art (zumindest für mich) über die LGBTQ-Community und wenn man sich dessen bewusst ist, macht es Vieles im Buch verständlicher.
Ich könnte jetzt noch von so viel mehr in diesem Buch schreiben, aber da gibt es andere Rezensionen, die das besser können und so beschränke ich mich auf die Teile, die mich besonders beeindruckt haben. Ich habe aus Wicker King viel gelernt und mitgenommen und es wird noch eine Weile dauern, bis ich aufhöre darüber nachzudenken. Aber gerade wegen seiner Eindringlichkeit möchte ich das Buch jedem Leser ans Herz legen, selbst wenn es sonst nicht euer Genre ist. (Ich könnte es sowieso nicht gut in ein Genre einordnen, weil es zu viele unterschiedliche Elemente gibt, die es ausmachen.)
Aber das Beste zu geben, reicht manchmal nicht. […] Manchmal muss man einfach aufhören und andere ihr Bestes geben lassen. Um selbst zu überleben. ∼ S. 221
Mich hat das Buch tief beeindruckt und erschüttert und auch etwas desillusioniert. Ein Buch über Mental Health, seine unmittelbare Verbindung zu den Beziehungen einer Person und den Wegen, die wie bereit sind zu gehen, wenn ein geschätzter Mensch in Gefahr ist. Eigentlich war es Zufall, dass ich es gelesen habe. Ich war noch nie über einen solchen Zufall so froh.
Übersetzt von: Uwe-Michael Gutzschhahn • Verlag: dtv • Seiten: 318 • Format: Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, eBook • Preis: 16,95€ (GB); 14,99€ (ePub) • Erscheinungstermin: 21. September 2018 • Neugierig?
Weitere Rezensionen
Vielen Dank an den dtv-Verlag für die Bereitstellung des Rezensionexemplares.
Anna meint
Das klingt spannend!
Jetzt habe ich fast ein bisschen Angst, dass es in „lieber total abdrehen als sich queer sein einzugestehen“ abdriftet, aber es klingt trotzdem so toll gemacht, dass ich dem eigentlich schon sofort nachgehen und das selbst herausfinden muss!
Gerade die Aufmachung, Gestaltung und Sprache der Geschichte klingen so awesome… Ich bin jetzt schon gespannt^^
Friederike meint
Den Aspekt mit dem queer-sein wollte ich eigentlich gar nicht erwähnen, weil es eben überhaupt nicht so wirkt. Es ist keine bewusste Entscheidung und spielt für die Handlung eigentlich keine Rolle, ich wollte vermeiden, dass Leser dieses Buch in diese Schiene drücken, aber es unerwähnt lassen konnte ich auch nicht. Denn die Repräsentation ist gut gemacht und wichtig, aber eben nicht handlungsgebend. Lies es auf jeden Fall, wenn der Rest dich anspricht, es ist wirklich spannend zu lesen.
Alles Liebe,
Friederike.